Temporäres Haus

alais de Glace / Buenos Aires / Argentinien / 2010

Für die Ausstellung  „Die Kunst der Unabhängigkeit“, ( MENOS TIEMPO QUE LUGAR)  Palais de Glace, Buenos Aires 2010, entwickelte Olaf Holzapfel die Skulptur „Temporäres Haus“.

Das temporäre Haus ist eine Interaktion zwischen den abstrakten Bildideen  Olaf Holzapfels und Gestaltmotiven der Wichis, einer indigenen Minderheit Nordargentiniens. Holzapfel beschreibt diese Zusammenarbeit als ein Gespräch mit den Wichis über ihre von der Natur abstrahierten Muster und seiner Arbeiten, über die Handlungsabläufe und Ordnungsprinzipien urbaner Räume. Es entstand eine begehbare Skulptur, die wie ein Art Zelt und gleichzeitig wie ein schräg in den Raum gekipptes Bild gelesen werden kann. Die gewölbte textile Fläche wirkt halbtransparent und überspannt eine Grundfläche von ca. 3 mal 5 Metern, die vom Boden auf 1,8 m ansteigt. Sie bildet nach außen eine gekrümmte topograpische Fläche und ist von der anderen Seite ein begehbarer Raum.

Als Holzapfel nach Argentinien eingeladen wurde, suchte er zuerst nach einem geeigneten hochwertigen Naturprodukt was zeitgenössisch wäre und in seiner Geschichte und Qualität das von Agrarwirtschaft und weiter Landschaft geprägte Land spiegeln könnte. Nach einer längeren Recherche entschied er sich für das Material Chaguar. Eine Naturfaser die von den Ureinwohnern Nordargentiniens seit Jahrhunderten benutzt wird und für die Indios als primärer Bildträger besondere, teils mystische Bedeutung hat. Gleichsam wird sie von Hand und sehr schonend, ohne Zerstörung der Mutterpflanzen geerntet. Chaguar ist eine Kakteenart die im Unterholz des Urwalds Nordargentiniens wächst. Aus den dicken, von messerscharfen Dornen besetzen Blättern der Pflanze werden die Fasern von Hand getrennt und später dann mit Farben, die aus Bäumen, Beeren, Blättern oder Samen gewonnen werden, gefärbt. Die Chaguarbilder sind somit ein vollständiges Naturprodukt und beschäftigen sich in ihrer Motivik mit ihr.

Die Oberfläche des gehäkelten Chaguars ist netzartig und transparent. Jedes einzelne Element ist aus der feinen handgesponnenen Naturfaser gehäkelt. Die Grundfarbe der Installation ist ein heller eleganter Beigeton, das ungefärbte Chaguar. An verschiedenen Stellen ist es mit leuchtendem warmrot, violett, saftgrün und hellblau eingefärbt. Jedes Element wird zudem von einzelnen schwarzen Linien, die wie Äste oder Wege auf einer Landkarte mäandern, durchzogen.

Die 20 verschiedenen Elemente entwarf Olaf Holzapfel mit Hilfe des Computers. Jedes Element hat seine eigene Binnenstruktur in einer Rasterform. Diese Felder lassen sich als Elemente eines Stadtrasters begreifen, das die Idee einer Matrix beinhaltet und auf die rasterförmige Stadtplanung von Buenos Aires verweist. Jedes Feld wäre somit eine Stadtcluster mit seiner spezifischen Binnenstruktur. Gleichzeitig deutet die Farbgebung verschiedener Stellen auf die Räumlichkeit einer Landschaft hin.

Die Installation wurde gemeinsam mit Frauen der Wichis angefertigt – die in Nordargentinien, primär im nordwestlichen Teil der Provinz Chaco und in den Provinzen Formosa, Salta und Jujuy, sowie in der Provinz Gran Chaco in Bolivien leben: Ihre ehemals nomadisch Lebensform, hauptsächlich vom Jagen und Sammeln lebend, hat sie für die Gesetze und Kräfte der Landschaft sensibilisiert. Die direkte Beobachtung ihrer Umgebung und ihrer individuellen Nutzung, der vorsichtige Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen, trifft eine maßgebliche Aussage über mögliche Formen der Nachhaltigkeit für unsere Zeit. Denn die Wichis mussten in Kooperation mit ihrer Umgebung leben, sie also als Partner erhalten, was für die heutige Welt von Bedeutung ist. Immer noch werden von ihnen verbreitet Materialien verwendet, die man vor Ort findet, z. B. in der Medizin, im Kunsthandwerk oder in der Konstruktion von Adobehäusern.

Olaf Holzapfel bat die Wichis seine Motive in ihre, in gewissem Sinne, ähnlich abstrakte Bildsprache zu übersetzen. Diese ist ebenso geometrisch und formalisiert, wie z.B. Bildsprachen des Bauhauses, beschreibt aber direkte Beobachtungen aus der Natur- wie etwa einem Berg, Tierpfade oder die Flügel eines Vogels, die in ihrer Symbolik in abstrakte Räume darstellen, in wiederholbare Muster verwandelt wurden. So entstanden 20 Textilbilder die einerseits kulturelle Artefakte der Wichis und gleichzeitig Konzepte eine westlichen Moderne in sich tragen. Für „temporäres Haus“ wurde somit innerhalb der Bilder die Beobachtung von Natur und Landschaft mit den formalen Prinzipien künstlicher; urbaner Welten zusammengebracht. Es ist wie eine Art Visuelles Gespräch über Einfachheit und Abstraktion, über Austausch und gegenseitiges voneinander Lernen. Umgesetzt von den Wichífrauen vermischen sich beide Bestandteile.

Anders ausgedrückt thematisiert die Arbeit das Verhältnis von Innen- und Außenformen und deren Übergänge. Für Holzapfel stellt das Verhältnis von Innenräumen, wie der extrem verdichteten Stadt Buenos Aires, zur umliegenden weiten Landschaft das zentrale Wesensmerkmal der argentinischen Gesellschaft dar. Eine Landschaft die bislang vor allem extensiv und verbrauchend genutzt wurde. Jedes einzelne Chaguarelement vereint das rasterförmige, städtische Prinzip und die Farbgebung einer abstrakten Landschaft. Da das Artifizielle, für den Menschen Gemachte, hier Teil der Umgebung ist, vereint die Arbeit beide Potentiale. Der Innenraum und die benachbarte Landschaft müssen notwendigerweise miteinander in Beziehung treten, denn nur in ihrer Interaktion kann die Frage nach Unabhängigkeit und „mehr Zeit als Raum“ gestellt und gelöst werden. Unabhängigkeit kann nach Ansicht Holzapfels nicht ohne das Verständnis des Anderen gedacht werden. In seiner Interpretation von Claude Levinas sind die Porteños (BewohnerInnen von Buenos Aires) der Schatten der Wichis und umgekehrt.

Die Form der Installation, ein zusammenfaltbares, temporäres Zelt, das wiederholt auf- und abgebaut werden und mit der Ausstellung wandern kann, erinnert an das Nomadische der Indios. Ein Leben das sie heute nicht mehr leben können weil ihr Lebensraum beschränkt wurde. Sie halten aber an ihrem Wissen der Landschaft fest. Im Gegenzug begreift die moderne technisierte Welt sich immer mehr als nomadisch.

Verena Thesen (Mehr Informationen im Blog vom Goehte Institut)