Der Große Wurf
Kaiser Wilhelm Museum / Krefeld / 2008
Faltungen in der Gegenwartskunst
Kuratorin: Dr. Sylvia Martin
Auf der Vorstellung, dass Sprache welterzeugend ist, baut der alttestamentarisch geprägte Kulturkreis auf. Doch seit bestimmten Denkern Sprache nicht mehr Mittel der philosophischen Erkenntnis ist, sondern deren Gegenstand, schwindet ihre Autorität. Trotz aller Bemühungen, einem veränderten Verständnis von Sprache und somit von Welt mit veränderten Ausdrucksweisen zu begegnen, gibt es Phänomene, an denen Sprache scheitert. Dies macht sich besonders da bemerkbar, wo das gedruckte Wort auftritt – in Büchern, Texten, die linear organisiert sind und von Anfang bis Ende durchwandert werden wollen. Hier kann eine Beschreibung von Gleichzeitigkeiten oder Überlagerungen etwa immer nur in einem Nacheinander erfolgen. Dies gilt auch für die vorliegende Publikation. Denn sie muss sich einem künstlerischen Oeuvre, das genau diese Beschreibung von Gleichzeitigkeiten und Überlagerungen vornimmt, auf eben jene lineare Weise nähern. Vielleicht gerät diese Diskrepanz dem Werk von Olaf Holzapfel sogar zum Vorteil, denn so werden die Qualitäten seiner Arbeiten offenbar.
Holzapfel entwickelt mit seinen Skulpturen, Gemälden und digitalen Drucken nicht mehr und nicht weniger als Metaphern für Arten und Weisen, wie man Welt denken, bilden und sich durch sie hindurchnavigieren kann. Seine Werke, die auf den ersten Blick an formalen oder material-immanenten Fragestellungen interessiert wirken, erweisen sich bei näherer Betrachtung mit ihrer Schichtung und Faltung, ihren Unschärfen, wie der Künstler es nennt, als konzeptuell aufgeladene Modelle für ein Denken, das sich gerade nicht linear bewegt, sondern von einem Ort zum nächsten gelangen kann, ohne die Zwischenstrecke abfahren zu müssen, ein Denken, in dem scheinbar Widersprüchliches unvermittelt nebeneinander steht, und das für sich anerkennt, dass es zwar diese Sprünge machen kann, dennoch nur innerhalb bestimmter Grenzen. Es ist ein Ansatz, wie er sich beispielsweise in den Konglomerationen mancher Städte manifestiert, in denen sehr verschiedene Architekturen als Ausdruck sehr verschiedener Bedürfnisse und Vorstellungen nebeneinander stehen, durch die sich unterschiedliche Leitsysteme ziehen und ein jeweils anderes Zeichensystem zur Entzifferung ihrer jeweils anderen Informationen benötigen, und schließlich in den virtuellen Welten, in denen schon ein Mausklick ein neues Universum eröffnen kann.
Die gewaltige Installation „Das abseitige Freie“ (2008) besteht aus zwei farbigen, wandartigen Konstruktionen, die solch vermeintliche Widersprüche, solche Momente eines „sowohl – als auch“ bergen und abbilden. Sie beherrschen mit ihren beeindruckenden Maßen von 5 x 9,5 sowie 4,2 x 11 Metern den Raum, gliedern ihn, stellen sich dem Betrachter in den Weg, verweigern Durchblicke oder Passagen. Zugleich aber sind sie fragile, flexible Gebilde. Ihr Material ist nicht das einer auf Permanenz berechneten Architektur, sondern Hartpappe, das Material des Provisorischen, der Verpackung und somit des Migratorischen. Beide „Wände“ sind farbig, die eine ist in einem gräulich-hellen Grün lackiert, die andere in einem tiefen Tintenblau, so dass auch hierdurch die Assoziation an nüchtern Bauliches gestört und in eine andere Richtung verschoben wird – die meisten Betrachter dürften „Grün“ und „Blau“ mit Landschaftlichem verbinden, dem Gegenpol zum Architektonischen. Auch der Titel sendet, wie bei fast allen Arbeiten Holzapfels, ein Störsignal aus, ein sprachliches, das die Gedanken in entgegengesetzte Richtungen schickt. „Das abseitige Freie“ benennt die der Arbeit inhärenten Gegensätzlichkeiten: Während der Begriff der Abseitigkeit eine räumliche Verortung impliziert, oder einen moralisch-wertenden, klassifizierenden Standpunkt, von dem aus etwas als abseitig betrachtet wird, führt ein Nachdenken über den Begriff des „Freien“ zu kaum überschaubaren, auch philosophischen Fragestellungen. Wenn also Werke wie „Das abseitige Freie“, oder auch frühere Arbeiten wie „Squatter Bike Store“ (2004) oder „Weiches Haus“ (2005), überhaupt Vorbilder in der empirischen Welt besitzen, dann finden sich diese in all jenen behelfsmäßigen Behausungen, die der Not oder dem Wunsch nach einem unabhängigen, nicht statisch verankerten Leben geschuldet sind.
Vor allem aber sind diese Werke nicht das Ergebnis eines Entwurfs, der ein kohärentes Ganzes vor Augen hat, sondern im Gegenteil eine Struktur, die Übergänge von einer Dimension in eine andere erlaubt, von einem Aggregatzustand in einen anderen, die, wenn man so will, Raum für konzeptuelle Wurmlöcher schafft. Die „Wände“ entstehen zunächst als Zeichnung, die ein Gitter über eine rechteckige Fläche legt und dieses mit weiteren Linien überlagert. Anhand dieser Vorskizze werden Module aus Pappe geschnitten, deren Ränder wie in einem Falt- oder Stecksystem mit Einschnitten versehen sind, damit sich die einzelnen Elemente zu einer ansatzweise stabilen und statisch selbständigen Konstruktion zusammenfügen lassen. So ist die grüne „Wand“ aus fünf solcher Module in der Höhe gebaut, die blaue aus entsprechend größeren vier. Doch Holzapfel verkompliziert dieses System. Es gibt weit mehr Einschnitte, als dies zur Errichtung einer tragfähigen Struktur erforderlich wäre, und so dienen diese funktional überflüssigen Einschnitte dazu, die Flächigkeit der „Wand“ aufzubrechen und aufzufächern. Sie sind Holzapfel Sinnbild für die in komplexen Systemen angelegten Optionen, für Orte einer Potentialität, die Möglichkeiten zur Weiter- oder Andersentwicklung bereithalten, ob sie nun zur Entfaltung gelangen oder nicht. Über diese Grundform der in alle Dimensionen offenen Wand wird dann ein Netzwerk aus farbigen Verschnürungen gelegt, eine Ordnung, die der Ausrichtung des Rasters entgegenläuft. Die Schnüre gehorchen teilweise einer konstruktiven Logik, vor allem aber führen sie zu einer Befestigungsvorrichtung an der Decke. Dabei könnten die „Wände“ durchaus ohne prothetische Halterungen im Raum stehen, wenn sie sich auch – dem Material geschuldet und somit gewollt – nach längerer Aufstellung verformen und verbiegen. Doch die absichtlich nachlässige und wenig rationell erscheinende Aufhängung führt ein weiteres widersprüchliches Moment in die Arbeit ein und überlagert jenen ersten Eindruck einer frei stehenden, in sich statischen Struktur.
Und noch eine Option zur Unschärfe trägt das Werk in sich. Die Arbeit mit Modulen impliziert – gerade auch im architektonischen oder skulpturalen Denken der Moderne – das Potential zur unendlichen Fortsetzung eines immer Gleichen, in den Raum und in die Virtualität hinein. Zugleich aber bedeutet das Modul immer auch eine Beschränkung, denn mit der Festlegung seiner Eigenschaften sind die Möglichkeiten dessen, was potentiell unendlich wiederholt oder gebaut werden kann, begrenzt. Die Form des Moduls gibt die Form des aus ihm zu Konstruierenden vor, und dieser Antagonismus beschreibt sehr treffend, wie das Werk angelegt ist – als Ausdruck einer individuellen Wahl aus nur scheinbar unendlich vielen Möglichkeiten, da Holzapfel im Akt des Auswählens, der ihm zufolge immer nur innerhalb bestimmter Parameter erfolgen könne, selbst die Beschränkung sieht. Man bewegt sich, so der Künstler, in einem Entscheidungskorridor. Seine modularen Arbeiten sind also fest umrissen. Ihre Ausdehnung, ihre Endlichkeit beruht auf sehr bewussten Entscheidungen von Olaf Holzapfel. Eine Weiterentwicklung der „Wand“ ist zwar potentiell angelegt, ausgeführt wird sie jedoch nicht. Gerade diese Potentialität ist die Crux der Arbeit – und sie drückt sich auch in der Aufgabelung der blauen „Wand“ aus. Diese, im Verhältnis zur grünen „Wand“, sich noch mehr Raum erobernde Aufstellung erschwert die ohnehin schon schwere Aufgabe, die Installation als Ganzes zu betrachten. Ihre Weichheit, ihre Kurvung lenkt den Blick immer wieder ab und macht es unmöglich, sich eine in überschaubaren Fluchtachsen angelegte Struktur vorzustellen. Man muss sich um das Werk herum bewegen, kann immer nur bestimmte, einzelne Momente wahrnehmen, während das Auge und das Gehirn zugleich Informationen filtern und aussieben, betrachten, was sie erfassen können, wählen, was zu betrachten wert ist und sich dabei in den Falten und Schnitten verfangen, von den Rundungen zu den strengen Koordinaten gelangen, sich im Blau verlieren, um von den Schnürungen wieder aufgefangen zu werden, wissend, dass sie vor einer Wand stehen, die ihnen jedoch in viele kleine Einzelmomente zerfällt. Und mit diesem Erkenntnisakt vollzieht man genau das nach, was Holzapfel in seiner Kunst betreibt und darzustellen sucht.
(Text von Astrid Mania)